27

 

In den fast dreihundert Jahren, die Andreas Reichen schon auf dieser Erde lebte, hatte es eine Zeit gegeben, als Tod über ihn geregnet war wie eine Sintflut. Damals, als eine brutale Welle sinnloser Gewalt sein sonst so friedliches Anwesen heimgesucht hatte.

Damals, im feuchten Sommer von 1809, war es eine Rotte Rogues gewesen, die in ebendiesen Dunklen Hafen eingebrochen war und etliche seiner Verwandten vergewaltigt und getötet hatte. Der Überfall war ein Zufall gewesen, das Anwesen und seine Bewohner hatten das Pech gehabt, dem blutsüchtigen Rudel Rogues im Weg zu stehen.

Sie waren durch die unbewachten Türen und Fenster ins Haus eingedrungen, fraßen und töteten zu viele Unschuldige ... und doch hatte es damals Überlebende gegeben. Die Rogues hatten ihren Schrecken verbreitet und waren dann weitergezogen wie die Pestilenz, die sie waren.

Irgendwann später hatte ein Ordenskrieger, der Reichen zu Hilfe gekommen war, sie zur Strecke gebracht und vernichtet.

Das Gemetzel damals war unfassbar gewesen, hatte aber seinen Dunklen Hafen nicht vollständig ausgelöscht.

Was Reichen bei seiner Rückkehr an diesem Abend erwartete, war ein kalkulierter Überfall gewesen. Die Mörder waren nicht durch rohe Gewalt eingedrungen, sondern durch Verrat. Man hatte einen Feind willkommen geheißen wie einen Freund. Und was dieses Mal hier stattgefunden hatte, war ein totales Massaker.

Niemand war verschont worden.

Nicht einmal die Jüngsten.

Eine schreckliche Stille durchdrang die Luft wie eine Krankheit, als Reichen durch das Blut und die Zerstörung wanderte, als wäre er selbst einer der Toten. Seine Schritte folgten den klebrigen roten Spuren über den Marmorboden in Vestibül und Foyer, vorbei an seinem jungen Neffen, der sich vor nur wenigen Wochen so gefreut hatte, dass Reichen der Pate seines neugeborenen Sohnes geworden war. Der rothaarige junge Vater, der bei der Tür ausgebreitet am Boden lag, war der Erste gewesen, der sterben musste, dachte Reichen und brachte es nicht über sich, in das leblose Gesicht zu schauen, das blicklos auf die von Kugeln durchsiebte Treppe hinüberstarrte, die zu den Schlafräumen in den oberen Stockwerken des Dunklen Hafens führte.

Mehr Tod erwartete ihn im Gang vor der Bibliothek, wo ein weiterer Mann mitten im Lauf gefällt worden war, und noch mehr ausgelöschte Leben bei der Kellertreppe. Einer von Reichens Cousins und seine Gefährtin, beide erschossen, als sie versuchten, dem Kugelhagel zu entfliehen.

Die Leiche des kleinen Jungen sah er erst, als er fast über sie stolperte - ein flachshaariges Vampirkind, das offenbar versucht hatte, sich in einem der Schrankfächer der Esszimmeranrichte zu verstecken. Seine Angreifer hatten ihn herausgezerrt und wie einen Hund auf dem antiken Perserteppich erschossen.

„Herr im Himmel", keuchte Reichen, sank in die Knie und hob die schlaffe Hand des Jungen an seinen Mund, um seinen heiseren Aufschrei zu ersticken. „Du lieber Gott .. warum?

Warum sie und nicht ich!"

„Er sagte, du würdest wissen, warum."

Beim hölzernen Klang von Helenes Stimme schloss Reichen die Augen. Sie sprach zu langsam, die Silben zu ausdruckslos ... zu tonlos. Seelenlos.

Er musste sich nicht erst zu ihr umdrehen und sie ansehen, um zu wissen, dass ihre Augen nun eigenartig stumpf waren.

Weil all ihre Wärme - ihr ganzes Menschsein - vor kurzer Zeit mit ihrem Blut aus ihr herausgeflossen war.

Sie war nicht länger seine Geliebte, seine Freundin. Sie war eine Lakaiin.

„Wer hat dich gemacht?", fragte er und ließ die Hand des toten Jungen los. „Wem gehörst du nun?"

„Das solltest du doch wissen, Andreas. Du hast mich schließlich zu ihm geschickt."

 Der verdammte Dreckskerl.

Reichen biss die Zähne so fest zusammen, dass ihm fast die Backenzähne zersprangen. „Wilhelm Roth. Er hat dich hergeschickt, um mir das anzutun. Er hat dich benutzt, um mich zu zerstören."

Dass Helene nichts darauf antwortete, bestätigte die Richtigkeit dieser Erkenntnis endgültig. Auch wenn es ihm das Herz brechen würde, in die Augen seiner ehemaligen Geliebten zu schauen und nur noch die seelenlose Hülle der Frau zu finden, die ihm so viel bedeutet hatte - Reichen musste es mit eigenen Augen sehen.

Er stand auf und drehte sich langsam um. „Oh Gott.

Helene ..."

Ihr Gesicht und ihre Kleider waren mit getrocknetem Blut bespritzt - fast jeder Quadratzentimeter von ihr war bedeckt vom Blut seiner liebsten Freunde und Verwandten.

Sie musste mitten in diesem Gemetzel gestanden haben, eine kaltherzige, ungerührte Zeugin.

Sie sagte nichts, als sie ihn anstarrte, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt. Ihre einst so hellen und klugen Augen waren nun so leer und kalt wie die eines Hais. In ihrer herabhängenden Hand hielt sie ein riesiges Fleischermesser aus der Küche. Die breite Klinge glitzerte im Schein des Kristalllüsters.

„Es tut mir leid", murmelte er, und sein Herz zog sich zusammen, als steckte es in einem Schraubstock. „Ich habe nicht gewusst... als du mir Roths Namen gemailt hast, habe ich versucht, dich zu warnen. Ich habe versucht, dich zu erreichen ..."

Er ließ die Worte verhallen, denn Erklärungen waren nicht mehr von Bedeutung. „Helene, ich will nur, dass du weißt, wie leid es mir tut." Er schluckte die Galle, die ihm hinten in der Kehle aufstieg. „Dass du mir alles bedeutet hast. Ich habe dich gelie..."

Mit einem gespenstischen Kreischen stürzte sich die Lakaiin auf ihn.

Reichen spürte, wie die scharfe Schneide der Klinge ihm mit einem tiefen, brutalen Hieb über Brust und Arm schnitt.

Er ignorierte den Schmerz und den plötzlichen Geruch seines eigenen Blutes, der ihm in die Lungen drang, packte den wild um sich schlagenden Arm von Roths Geistessklavin und drehte ihn ihr auf den Rücken. Sie kreischte, bäumte sich auf und kämpfte, als er auch den linken Arm senkte und ihre beiden Arme an die Seiten fesselte. Sie fluchte und schrie, überschüttete ihn mit üblen Schimpfwörtern, tobte vor Wut.

„Schsch...", flüsterte Reichen an ihrem Ohr. „Still jetzt."

Helene zuckte und wand sich wie ein wildes Tier und kreischte weiter, dass er sie loslassen sollte.

 Nein,  berichtigte er sich selbst. Nicht Helene.  Das war nicht länger die Frau, die er kannte. Sie war fort, er hatte sie verloren in dem Moment, als sie Wilhelm Roths Todesschwadron in seinen Dunklen Hafen eingelassen hatte.

Eigentlich hatte sie ihm ja nie ganz gehören können. Aber bei Gott, sie hatte nicht verdient, so zu enden. Und keiner der Gefallenen hier hatte ein solches Grauen verdient.

„Keine Angst", murmelte er und hob seine rechte Hand, um ihr die kalte, blutbespritzte Wange zu streicheln. „Es ist vorbei, mein Liebling."

Mit einem kehligen Aufschrei riss sie den Kopf zur Seite.

„Scheißkerl! Lass mich los!"

„Ja", sagte er. Er entwand ihr das Fleischermesser, das sie immer noch gepackt hielt. „Es ist vorbei. Ich lass dich gehen."

Ein wilder Kummer würgte ihn, als Reichen den Messergriff in seinen Fingern herumdrehte und ihr die Spitze an die Brust hielt.

„Vergib mir, Helene ..."

Während er sie fest an sich gepresst hielt, stieß er ihr die Klinge tief in die Brust Sie gab kein Geräusch von sich, als sie starb, stieß nur einen langen, langsamen Seufzer aus, als sie in seinen Armen zusammensank und dort hing, schlaff wie eine Stoffpuppe. So sanft er konnte, ließ Reichen sie zu Boden gleiten. Das Messer fiel ihm aus der Hand und landete neben ihr, verschmiert mit dem hellen Purpur von zwei Sorten Blut - ihrem und seinem, die sich dort mischten.

Reichen warf einen langen, unverwandten Blick auf die Verwüstung, die sein Zuhause gewesen war. Nun, da es vorüber war, wollte er sich jeden Blutfleck, jedes Opfer einprägen, das wegen seiner Unaufmerksamkeit zu Tode gekommen war. Wegen seines Versagens. Er musste sich alles einprägen, weil schon in kurzer Zeit nichts von alldem mehr existieren würde.

Er konnte es nicht so zurücklassen. Und er würde diese Morde rächen.

 

Reichen drehte sich um und verließ den Schauplatz des Massakers. Seine Stiefel klangen hohl auf dem Holzboden der Halle, seine Schritte waren das einzige Geräusch in diesem grausigen Massengrab. Als er den Vorgarten des Anwesens erreicht hatte, fühlte sich seine Brust nicht länger wie eingeschnürt an, sondern kalt.

So kalt wie Stein.

So kalt wie die Rache, die er an Wilhelm Roth und all seinen Verbündeten verüben würde.

Reichen blieb auf dem mondbeschienenen Rasen vor dem Haus stehen. Er drehte sich zum Anwesen um und sah es einen Augenblick lang einfach nur an, wie es in seiner gespenstischen Stille vor ihm lag. Dann flüsterte er ein Gebet, alte Worte, die sich rostig auf seiner Zunge anfühlten, so lange hatte er sie nicht mehr gebraucht.

Nicht dass Gebete ihm jetzt noch helfen konnten. Er war verdammt - jetzt mehr denn je. Er war ganz allein.

Reichen ließ den Kopf auf die Brust sinken und beschwor seine schreckliche Gabe. Sie schwoll in ihm an, eine Hitze, die sich rasch verstärkte, sich in seinem Bauch zu einer weiß glühenden, wirbelnden Kugel zusammenballte.

Er ließ sie wachsen. Er ließ sie sich drehen und wenden und an Kraft zunehmen, bis ihre wütende Hitze ihm fast die Eingeweide verbrannte.

Und immer noch hielt er sie zurück.

Er hielt seine Kraft weiter in sich, bis der Feuerball gegen seine Rippen prallte und aufsteigender Rauch und Asche ihm die Kehle versengten. Bis der Feuerball ihn verzehrte, seinen ganzen Körper mit weiß glühendem Schein von innen erleuchtete. Er schwankte auf den Füßen, während er kämpfte, den Feuerball weiter anwachsen zu lassen, bis er groß genug war, um sofortige, totale Zerstörung zu bewirken.

Und dann, mit einem kummervollen Aufbrüllen, entfesselte Reichen diese Kraft und ließ sie los.

Hitze fuhr aus seinem Körper und schoss wirbelnd nach vorne, eine Kugel reiner, explosiver Energie, die mit der Treffsicherheit einer laserprogrammierten Rakete in der offenen Tür des Anwesens einschlug. Eine Sekunde später detonierte sie in einem Spektakel von höllischer Schönheit.

Die Druckwelle der Explosion schleuderte Reichen nach hinten. Er lag im Gras und beobachtete mit seltsam gleichgültiger Befriedigung, wie Flammen, Funken und Rauch restlos verzehrten, was noch vor Kurzem sein Leben gewesen war.

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